Friedensverhandlungen sind nur im europäisch-globalen Rahmen möglich
Günther Baechler*, 8. März 2023
Der Ruf nach einer diplomatischen Beendigung des Ukraine-Kriegs reisst nicht ab. Die Bedingungen sind allerdings derzeit nicht gut. Ein nachhaltiger Frieden zwischen Russland und der Ukraine ist nur in einem europäisch-globalen Rahmen denkbar.
«Verhandeln, jetzt!» Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine gibt es eine hitzige Debatte darüber, wie dieser Krieg rasch beendet werden kann. Welche Faktoren aber behindern und welche begünstigen Friedensverhandlungen? Drei Aspekte stehen zunächst im Vordergrund: das Gewaltparadox, die Zeitdynamik und das Täter-Opfer-Verhältnis.
Zunächst zum Gewaltparadox. Engagierte Beobachter fordern mit Nachdruck, die Konfliktparteien möchten sich umgehend an einen Tisch setzen. Das Problem: Wären die Bedingungen für eine friedliche Lösung bereits vor der Eskalation vorhanden gewesen, wäre es nicht zur Eskalation gekommen. Wenn die Bedingungen für einen Dialog vor einer Eskalation nicht gegeben sind, dann sind sie es in der Regel nach dem Überschreiten der Gewaltschwelle noch weniger.
Nach der Invasion vom 24. Februar 2022 und dem Angriff auf die Hauptstadt Kiew war schnell klar: Es geht der russischen Führung um mehr als um taktische Gewinne, die die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen sollten. Der Schlachtenlärm übertönte im Laufe des Jahres unzählige Friedensappelle und Vorstösse aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Diskret eröffnete «back channels» westlicher Vermittler wurden im Laufe des Jahres nicht aktiviert. Der ukrainische Zehn-Punkte-Plan von Dezember 2022 wurde als unrealistisch eingestuft.
Aus der Perspektive der Mediation liegt das Paradox darin, dass die Überschreitung der Gewaltschwelle diejenigen Faktoren, die aus der Sicht mindestens einer der Konfliktparteien für die Anwendung bewaffneter Gewalt sprechen, noch deutlich verstärkt anstatt schwächt.
Zeitdynamik und Schuldumkehr
Zweitens die zeitliche Dynamik: Erfahrungsgemäss sind Konfliktparteien nicht unmittelbar nach der Gewaltergreifung zu Verhandlungen bereit. Gerade bei bewaffneten Konflikten in und zwischen Staaten geht dem ersten Schuss eine lange Phase der Spannungen, Polarisierungen, Drohungen und Anschuldigungen voraus. Nach dem Umschlagen in eine gewaltsame Auseinandersetzung heizen auf einen Schlag extrem belastende Faktoren die Konfliktdynamik weiter an: Dehumanisierung, Flucht und Vertreibung, humanitäre und gefechtsfeldbezogene Opfer, Verstümmelung und Tod.
Solange die Kampfhandlungen nicht in einen endlosen Zermürbungskrieg führen, der die Macht der Führungen untergräbt und das eigene politisch-militärische System zersplittert, so lange werden glaubwürdigen Verhandlungen kaum Chancen eingeräumt. Die Wahrnehmung von Sieg oder Niederlage bestimmt zwar den Zeitpunkt möglicher Verhandlungen. Wann dieser Zeitpunkt gekommen sein mag, wird jedoch von den Parteien sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Wer im vermeintlich falschen Moment Schwäche zeigt, verliert an der Heimfront und wird als Verräter verurteilt. Die Geschichte ist voll von Beispielen mit mutigen Friedensstiftern, die Opfer der eigenen Seite wurden. Für die Mediation ergibt sich das Paradox der Ungleichzeitigkeit von Einsicht in die Notwendigkeit, weitere Zerstörungen durch Verhandlungen zu vermeiden. Es gilt somit für Dritte, den Moment zu identifizieren und zu nutzen, in dem sich eine gewisse Synchronisierung von Zeitdynamik und Interessen abzuzeichnen beginnt.
Drittens schliesslich die Schuldumkehr in den Täter-Opfer-Beziehungen: Konfliktparteien streben danach, nach innen und aussen ein möglichst vorteilhaftes Bild der Situation und der eigenen Absichten zu vermitteln. Im Kontrast zu den eigenen hehren Zielen wird die andere Seite kleingeredet, verteufelt und dehumanisiert. Putin arbeitet seit seinem Machtantritt an der Montage des Feindbilds von Faschisten, die gemäss einer Aussage von Aussenminister Lawrow die «Endlösung der Russlandfrage» anstreben.
Damit bezweckt er eine Schuldumkehr in geradezu historischen Dimensionen. Sämtliche Gründe für eigenes aggressives Verhalten werden der anderen Seite angelastet. Der völkerrechtswidrige Angriff wird auf diese Weise zur präventiven Verteidigung, um die Sicherheit Russlands und den Schutz seiner Bürger zu wahren. Aggression wird zur Reaktion, Intervention zur Prävention, Eroberung zur Verteidigung. Die Gewaltspirale kann nur gerechtfertigt werden, wenn es gelingt, die eigene Bevölkerung und diejenige von Drittstaaten davon zu überzeugen, dass der Waffengang angesichts der «faschistischen Umzingelung» legitim ist. Der Täter wird zum Opfer und umgekehrt. Wie uns die Konfliktursachenforschung lehrt, ist gerade die Analyse der Wurzeln eines Konflikts für die Mediation besonders herausfordernd.
Selbstbezogenheit und Verfassungsauftrag
Ergänzend zu den drei Aspekten erschweren weitere Besonderheiten dieses Kriegs eine Verhandlungslösung. So ist einerseits der Konflikt, der zum Angriff Russlands auf die Ukraine geführt hat, stark von einer inneren, genuin russländischen Dimension geprägt. Diese Dimension ist historisch schon sehr viel älter als der Kalte Krieg, die Existenz der Nato oder der Zusammenbruch der Sowjetunion.
Putin und seine Berater waren im Grunde immer sehr klar bei der Darlegung der Charakteristika der russisch-orthodoxen Zivilisation, die nicht nur im Gegensatz zum Westen stehe, sondern auch dazu auserwählt sei, den Westen vor dem moralischen Zerfall zu retten. Der Drang nach Expansion erklärt sich sozusagen selbstreferenziell aus der eigenen Geschichte heraus und ist nur bedingt eine Antwort auf das internationale Umfeld.
Andererseits hat Putin die Annexion von vier vormals ukrainischen Regionen und deren Eingliederung in die Russische Föderation in der Verfassung festgeschrieben. Damit hat er sich selbst und allen künftigen Präsidenten die Hände gebunden. Selbst wenn er wollte, könnte er am Verhandlungstisch keine territorialen Kompromisse eingehen, ohne die russische Verfassung zu verletzen.
Jeder, der mit der Herausgabe von «russischem» Territorium liebäugeln sollte, würde politisch den nächsten Tag kaum überleben. Hinzu kommt, dass dieselben Gebiete Teil der ukrainischen Verfassung sind und damit ebenfalls keine verhandelbare Grösse darstellen. Jede ukrainische Regierung wäre mit derselben Herausforderung konfrontiert wie die russische.
Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt Chancen für eine Mediation? Wann und unter welchen Prämissen sind beide Parteien mehr oder weniger zur selben Zeit dazu bereit, sich an den Tisch zu setzen? Und über was wird verhandelt? Geht es zunächst «nur» um Vertrauensbildung, wie zum Beispiel eine zeitlich und geografisch befristete Waffenruhe? Oder geht es direkt um einen umfassenden Waffenstillstand mit entsprechenden Vereinbarungen über das Monitoring und einen Rückzug von Streitkräften?
Ideal wäre es angesichts all der offenen Fragen, wenn eine Drittpartei bereits vor der Eskalation zu beiden Seiten gute und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut und gepflegt hätte. Das heisst nicht, dass die Drittpartei in jeder Hinsicht «neutral» sein muss. Sie muss in Bezug auf die Akteure «unparteiisch» agieren und für einen strukturierten Prozess sowie faire Modalitäten sorgen. In Bezug auf ihre Werthaltung kann beziehungsweise muss sie sogar völkerrechtliche Normen und Prinzipien vertreten und diese zur Richtschnur für regelbasierte Verhandlungen machen.
Eine schwierige Aufgabe der Mediation besteht darin, eine gewisse Opfer-Täter-Symmetrie am Verhandlungstisch herzustellen. Das geht eigentlich nur dann, wenn man sich weniger bei der Vergangenheit aufhält als vielmehr versucht, die gemeinsame Zukunft einvernehmlich zu gestalten. Bemerkenswert ist dabei, dass bei den bisherigen Abkommen im postsowjetischen Kontext immer Russland begünstigt und die angegriffene Seite benachteiligt wurde. Die vielen «kleinen» Formate wie die Genfer Gespräche, die Minsk-Co-Chairs zu Nagorni Karabach, das Minsk-Abkommen zur Ukraine oder auch das Normandie-Format führten zu keinem dauerhaften Frieden. Sie dienten der Russischen Föderation offenbar vor allem dazu, mit der Hilfe von Drittparteien ihre Gebietsansprüche zu legitimieren und festzuschreiben. Entstanden ist ein Flickenteppich mit Zonen grosser Brüchigkeit, mit Armutsregionen in «Zwischeneuropa» und mit Gebieten ungleicher Sicherheit.
Der Ukraine-Krieg lässt sich angesichts seiner weltpolitischen Bedeutung kaum noch in einem «kleinen Format» mit «statusneutralen» Scheinlösungen einfrieren. Vielmehr braucht es mit Blick auf fünfzig Jahre Schlussakte von Helsinki im Jahr 2025 einen mutigen Schritt vorwärts. Zwei Stufen sind zu nehmen: Die erste Stufe umfasst – im richtigen Moment – einen Waffenstillstand, der mit der Hilfe von Drittparteien von Putin und der Ukraine geschlossen werden muss. Die zweite Stufe könnte vertraglich zu einer umfassenden Friedensordnung mit gleicher Sicherheit für alle europäischen Länder führen.
Die Resolutionen der Uno-Vollversammlung könnten nicht nur den völkerrechtlichen Weg weisen, sondern auch globale Garantiemächte mit an den Tisch bringen. Europa hätte für einmal die Chance, sich von Revisionismus, Neokolonialismus und Krieg zu verabschieden, um sich den drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts zu widmen. Und die Uno könnte die Gunst der Stunde zu einer tiefgreifenden Reform des Sicherheitsrats nutzen.
Dieser Artikel, publiziert mit Einverständnis des Autors, ist zuerst erschienen auf: www.nzz.ch
* Günther Baechler war für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in der Friedensdiplomatie tätig, war OSZE-Sondergesandter für den Südkaukasus und mediierte die Geneva International Discussions zu Georgien mit.
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