Es gibt in Russland keine Chance auf Reformen
Gastkommentar von Wladislaw Inosemzew
Liberale Reformen sind in Russland nicht möglich. Denn der Anteil derjenigen Menschen, die bewusst gegen die Einführung solcher Reformen sind, ist zu gross. Wobei sich sowohl deren Anzahl als auch ihre Stellung in den 2000er Jahren und in den Folgejahren stark verändert hat.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die Beamten. Ihre Zahl hat sich von 1999 bis 2017 beinahe verdoppelt, und zwar von 780 000 auf 1,37 Millionen. Der zunehmende Wohlstand in der Bevölkerung sowie die verbesserten Haushaltsmöglichkeiten – dank gestiegenen Weltmarktpreisen für russische Rohstoffprodukte – liessen den Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe sprunghaft ansteigen. Rechnet man noch die Freunde und Verwandten dieser Glücklichen hinzu, so kann mit Sicherheit gesagt werden, dass mindestens drei Millionen Menschen von der heutigen Ordnung profitieren und keine Veränderungen wünschen.
Nur keine Veränderungen
Neben der Masse von Beamten gibt es noch die Silowiki. Nicht nur, dass diese Gruppe der russischen Bevölkerung zum grössten Teil nichts zur wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung des Landes beiträgt, sie stört diese sogar. Um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, führen sie immer neue Beschränkungen ein. Deren Überwachung sichert ihren Lohn, die Sanktionierungen bei Nichteinhaltung garantieren korrupten Gewinn.
Die Zahl derer, die in diesen Strukturen beschäftigt sind, übersteigt diejenige in Industrieländern bei weitem: Das FBI und die CIA verfügen nur über ein Drittel der Beschäftigten wie der FSB. Auch der Zustrom an Leuten ist in diesem Bereich so gross wie nie. In der Folge wollen nicht weniger als vier Millionen Menschen, die dieser Gruppe angehören (inklusive Militär), und ebenso viele Familienmitglieder überhaupt keine Veränderungen.
18 Prozent« Staatsdiener»
Diese Zahlen mögen vielleicht nicht ganz genau sein, aber in der letzten Zeit gibt es einen sehr interessanten neuen indirekten Indikator: Gemäss einem neuen Programm sind eigene russische Betriebssysteme für Smartphones in Zukunft obligatorisch für 7,9 Millionen Mitarbeitende staatlicher Organe, staatlich finanzierter Einrichtungen und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung.
Anders ausgedrückt: Geht man in Russland von 72,4 Millionen Beschäftigten aus, so beträgt der Anteil an «verantwortungsvollen Staatsdienern» mehr als 11 Prozent. Rechnet man noch die Familienmitglieder dieser Personengruppe hinzu, so kommt man auf 17 bis 18 Prozent der aktiven Bevölkerung. Zum Vergleich: In den USA beträgt die Zahl der Angestellten aller staatlichen Einrichtungen, inklusive Personal des nationalen Sicherheitsdienstes und des FBI, 1,86 Millionen Menschen, was 1,21 Prozent der Gesamtbeschäftigten entspricht.
Was tun mit all den Leuten?
Im Zuge von Reformen – sollten denn welche in Angriff genommen werden – würden diese Leute ihre Stelle verlieren und müssten in die Wirtschaft eingegliedert werden, wo die Mehrheit von ihnen unter normalen Umständen nicht gebraucht wird. So wurden beispielsweise in Georgien, als Saakaschwili die Reformen eingeleitet hatte, praktisch alle Angestellten der Polizei entlassen.
In den baltischen Staaten betrug der Stellenabbau im Zuge der Reformen zwischen 65 und 80 Prozent. In Russland würden sich also in einer gleichen Situation 700 000 bis 900 000 Leute auf der Strasse wiederfinden. Was fingen wir mit ihnen an, und welche Auswirkungen hätte das auf die Bevölkerung? Und eine noch wichtigere Frage: Wie will man die Hälfte oder ein Drittel der bisher Beschäftigten bei einer Umstrukturierung des Innenministeriums denn bitte schön ersetzen?
Gerade in dieser unglaublich aufgeblasenen Schicht von «Verwaltungsbeamten» und «Sicherheitsspezialisten» liegt der eigentliche Grund, warum Reformen in Russland nicht durchgeführt werden können. Dieses bösartige Geschwür, entstanden durch ein energiegeladenes Karzinogen der 2000er Jahre, ist inoperabel. Man kann sein Wachstum mit Maßnahmen analog zu Bestrahlung oder Chemotherapie bremsen. Das Geschwür zu entfernen, hätte jedoch den Tod des Patienten zur Folge.
Im postsowjetischen Raum können heute zwei Entwicklungswege beobachtet werden: Der erste ist relativ revolutionär und dort möglich, wo Sicherheits- und bürokratische Strukturen nicht nur schwach sind, sondern auch keinen kritischen sozialen Einfluss haben. Warum, beispielsweise, glückten in Georgien oder Armenien ziemlich radikale Umsturzversuche der bisherigen Systeme? Hauptsächlich, weil die Bürokratie einerseits kraftlos war (wie in Georgien), oder andererseits die Wirtschaft nicht grundlegend kontrolliert hat (wie in Armenien, wo das russische Kapital eine ausserordentlich starke Stellung innehatte).
Der Apparat schaut für sich selbst
Ausserdem waren die Sicherheitsstrukturen verhältnismässig schwach (am Vorabend der April-Proteste in Erewan betrug die Anzahl armenischer Polizisten ungefähr 10 000 Leute). In solchen Situationen kann es zu einem Machtwechsel kommen, können die (unter den früheren Hausherren) verantwortlichen Staatsbeamten sowie die Sicherheitsleute davongejagt und mehr oder weniger problemlos neue Staatsorgane mit qualifizierterem Personal aufgebaut werden, was recht gute Perspektiven schafft.
Der zweite, konservativere Weg ist charakteristisch für Gesellschaften mit einer völligen Verflechtung von Wirtschaft und Staat (wie Russland oder die Ukraine), wo auch wesentliche Erschütterungen zu keiner bedeutenden Säuberung der Bürokratie- und Machtsphäre führen. Nach einer relativ kurzen Normalisierungsphase wie in der Ukraine nach der «Revolution der Würde» oder einer längeren Phase wie in Russland in den neunziger Jahren findet in solchen Ländern das üble und nutzlose «Geschwür» aus Beamten und Silowiki zu seiner alten Grösse zurück. Und diese Tendenz kann nicht abgewendet werden.
Nur die Bolschewiken schafften das
Während der vergangenen zwei Dekaden hat sich in Russland ein System herausgebildet, von dem anzunehmen ist, dass die, welche an die Macht kommen oder in Sicherheitsstrukturen tätig sind, nur von materiellem Eigennutz getrieben sind (der Alltag lässt zumindest auf nichts anderes schliessen). Ernsthafte Reformen hätten also die Entlassung von drei bis vier Millionen Menschen aus den entsprechenden Strukturen zur Folge, die durch mindestens zwei Millionen ersetzt werden müssten, die vorher noch nie etwas mit Bürokratie zu tun hatten.
Ein solches «Manöver» ist technisch unmöglich, und daher erweisen sich Reformen im heutigen Russland als unrealistisch. Schaut man auf die Zerschlagung des zaristischen russischen Staatsapparates durch die Bolschewiki zurück, so mag man sich an den gezahlten Preis erinnern: Eine Elite von nicht weniger als drei Millionen Menschen wurde ausgelöscht (physisch und aus dem Land vertrieben), über einen Zeitraum von nicht weniger als zwanzig Jahren hat sich eine neue Verwaltungsschicht herausgebildet.
Ein solches Experiment kann Russland heute nicht wiederholen. Und das bedeutet, dass Hoffnungen auf baldige und radikale Umwälzungen eine Illusion bleiben.
Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter russischer Wirtschaftswissenschafter und Publizist. Er schreibt regelmässig für «Republic», «Vedomosti», RBC und andere russische Medien. Inosemzew ist Mitglied im regierungsnahen Wissenschaftsrat für internationale Beziehungen. 2010 unterschrieb er die Petition «Putin muss weg», die eine Reihe von oppositionellen Organisationen initiiert hatte. – Der auf Sobesednik erschienene Beitrag, der von Susanne Raschle aus dem Russischen übersetzt wurde, ist übernommen von der Website «Dekoder. Russland entschlüsseln», die deutschsprachigen Lesern unabhängige russische Medienartikel zugänglich macht.