Es ist Brauch in Russland, am Silvesterabend nicht nur das neue, beginnende Jahr zu feiern, sondern zuvor auch das alte, gehende Jahr zu verabschieden.
Dieses alte Jahr, dieses 2015 war kein ganz leichtes Jahr für viele Bürger und Bürgerinnen in Russland. Der Rubel hat weiter an Wert verloren, die Preise für viele Produkte sind gestiegen. Und auch auf dem Arbeitsmarkt ist es für viele nicht einfacher geworden.
Ich sitze mit Freunden in der Küche einer St. Petersburger Wohnung und wir verabschieden also dieses nicht ganz leichte Jahr. Wir trinken darauf, alles Schlechte in diesem alten Jahr zurückzulassen und darauf, dass das neue Jahr besser werden möge!
Ob die Aussichten für ein besseres 2016 jedoch realistisch sind? Wirtschaftliche und politische Prognosen sagen etwas anderes voraus. Es scheint mir aber an diesem festlich gedeckten Neujahrstisch und wenige Minuten vor Mitternacht nicht der richtige Zeitpunkt, um über die wirtschaftliche und politische Lage in Russland, über den tiefen Erdölpreis, über Sinn und Zweck der westlichen Sanktionen und russischen Gegensanktionen und über die nächsten Schachzüge der politischen Spitzen in Russland, den USA und Europa zu diskutieren.
Als aber im Fernsehgerät, welches in einer Ecke der Küche steht und fernab unserer Neujahrsfestlichkeiten im Hintergrund läuft, der Präsident der Russischen Föderation erscheint, um seine traditionelle Neujahrsrede zu halten, ist es dennoch soweit: Es geht nicht lange und ich als Westeuropäer werde über meine Ansichten zur russischen und westlichen Politik, zu diesen wieder erwachten Spannungen zwischen West und Ost befragt. Schnell entwickelt sich eine Diskussion, gehaltvoll, konstruktiv und – vor allem – ohne festgefahrene Fronten und Rollenverteilungen: Mal verteidigt der Westler den Osten, mal befürworten die Ostler die Politik des Westens. Nur beim 12. Glockenschlag halten wir kurz inne, um uns zu beglückwünschen und das neue Jahr willkommen zu heissen, was aber der Diskussion keinen Abbruch tut. Bis weit in die Nacht werden wir noch an diesem Küchentisch sitzen……
Was die Quintessenz der Diskussion war? Was inhaltlich festgehalten werden sollte? Ich weiss es nicht mehr, aber es ist für mich auch nicht wichtig! Wichtig ist für mich die Erkenntnis, dass jegliche Vorurteile und vorgefassten, festgeschriebenen Meinungen eine konstruktive Zusammenarbeit schon von Beginn weg ins Leere laufen lassen.
Eine differenzierte Diskussion aber, welche nicht geprägt ist von Vorurteilen und vorgefassten Meinungen, welche kritische sowie selbstkritische Inhalte fördert und nicht auf eine absolute Wahrheit mit nur einem gut und einem böse abzielt, wird dazu beitragen, sich gegenseitig zu verstehen und Lösungen zu finden.
Wenn dieses Verständnis des Dialoges in der Öffentlichkeit, den Medien und der Politik – sowohl im Westen als auch im Osten – geschaffen werden kann, dann habe ich durchaus Hoffnung, dass die Wünsche für ein besseres 2016 tatsächlich in Erfüllung gehen…..
……und dass der Begriff „Russlandversteher“ bald nicht mehr als Beleidigung aufgefasst werden muss: Sondern als positiven Ausdruck dafür, dass jemand gewillt ist, sein Gegenüber im Sinne eines besseren Zusammenlebens verstehen zu lernen.
28. Januar 2016, Alexander Siegenthaler