21.4. 2019: In der Ukraine erringt der Komiker Selenski bei der Präsidentschaftswahl einen haushohen Sieg
Nach einem dramatischen Wahlkampf ist der ukrainische Präsident Petro Poroschenko abgewählt worden. Wolodimir Selenskis Erfolg gründet vor allem in der Wut der Bürger auf Poroschenko. Der politisch unerfahrene Schauspieler wird das Land aber nicht so schnell verändern können, wie viele es erhoffen.
Am Ende hatte Petro Poroschenko, seit bald fünf Jahren der Präsident der Ukraine, nicht den Hauch einer Chance. Erste Prognosen zum Ausgang der Stichwahl, die auf Wählerbefragungen (exit polls) beruhen, sagen unmittelbar nach Schliessung der Wahllokale ein vernichtendes Resultat für ihn voraus: Nur rund 25 bis 27 Prozent der Wähler waren demnach am Sonntag bereit, ihn wiederzuwählen. Auf seinen Konkurrenten, den politisch noch völlig unbefleckten 41-jährigen Komiker, Schauspieler und Unterhaltungsunternehmer Wolodimir Selenski, entfallen 72 bis 73 Prozent. Auch wenn die Deutlichkeit des Ergebnisses in den unterschiedlichen Landesteilen variiert, ist es Poroschenko selbst in seinen Stammlanden im Westen der Ukraine nicht gelungen, Selenski zu schlagen. Im Osten des Landes stimmten offenbar sogar 88 Prozent für diesen.
Poroschenko gratuliert: Poroschenko räumte kurz nach der Bekanntgabe der Prognosen seine Niederlage ein und hielt eine kämpferische Rede. Er werde auch nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt in der Politik bleiben und die Errungenschaften seiner Amtszeit und die Unabhängigkeit der Ukraine verteidigen. Seinem Nachfolger stehe er mit Rat zur Verfügung. Wie bitter die Niederlage für ihn ist, äusserte sich in seiner Einschätzung, im Kreml in Moskau freue man sich schon über seinen Abgang. Gestaltet er ihn ohne Häme, erweist er allerdings der ukrainischen Demokratie einen grossen Dienst.
Selenski bestätigte später vor mehreren hundert Journalisten, Poroschenko habe ihn angerufen und ihm gratuliert. Der künftige Präsident beantwortete auch kurz einige Fragen, vertröstete aber die Öffentlichkeit mit konkreten Plänen, etwa zum Donbass, und seinem Personaltableau auf einen späteren Zeitpunkt. Direkt nach dem Bekanntwerden der Prognosen hatte er seiner Familie und seinem Team gedankt und an die postsowjetischen Staaten gerichtet ausgerufen, an seinem Wahlsieg zeige sich, dass politisch alles möglich sei.
Überdruss und grosse Wut: Damit ist ein höchst dramatischer Wahlkampf zu Ende gegangen, der auch auf die autoritär regierten Nachbarländer Russland und Weissrussland Faszination ausübte. Bei allen Unzulänglichkeiten bewies er, dass die Ukraine ein politisch eigensinniges Land ist. Poroschenko hatte bis zur letzten Minute alles versucht, um das Steuer herumzureissen. Sein Aktivismus in den drei Wochen zwischen dem für ihn enttäuschenden ersten und dem zweiten Wahlgang kam aber zu spät. Mit seiner Botschaft, angesichts der russischen Bedrohung könne es sich die Ukraine nicht leisten, einen Präsidenten ohne politische Erfahrung und mit gewissen Sympathien für Russland zu wählen, drang er ganz offensichtlich nicht durch. Zu gross waren der Überdruss ihm und seiner Entourage gegenüber und die Wut über Korruption, Bereicherung und Vetternwirtschaft an der Staatsspitze und im Alltag.
Das Resultat dieser Wahl ist deshalb in erster Linie ein Denkzettel für Poroschenko und die politischen Eliten. Ohne die tiefsitzende Wut über Poroschenkos gebrochene Versprechen – im Kampf gegen die Korruption, in der Frage der Beendigung des Krieges in der Ostukraine – ist Selenskis Sieg nicht zu verstehen. Aus dem Ergebnis spricht nicht die grenzenlose Begeisterung für Selenski, sondern die enorme Ablehnung Poroschenkos.
Aussenseiter gegen Etablierte Selenski brachte es während der denkwürdigen «Debatte» am Freitagabend im Kiewer Olympiastation selbst auf den Punkt, als er sagte, seine Kandidatur sei das Produkt der Präsidentschaft Poroschenkos. Das trifft doppelt zu: Er vermochte es am besten, diesem Überdruss als politischer Aussenseiter ein Gesicht zu geben. Und dass er gerade aus dem Unterhaltungsgeschäft kommt, ist auch Ausdruck der Verwandlung der ukrainischen Politik in Show durch Poroschenko selbst.
So war es auch während der hitzigen, vor allem aus gegenseitigen persönlichen Angriffen bestehenden Stadiondebatte zwischen Selenski und Poroschenko für den Newcomer einfach, etwa Poroschenkos Warnung, sich Russland nicht zu unterwerfen, umzudrehen: In den vergangenen fünf Jahren hatte es auch der Präsident, der sich als militärischer Oberkommandierender inszenierte, nicht geschafft, den Krieg im Donbass zu beenden, ja er konnte ihn zuletzt nicht einmal in die Richtung einer Konfliktlösung führen. Unter diesen Umständen hatten gerade auch die Wähler im frontnahen Osten des Landes keinen Grund, im unerfahrenen Selenski eine grössere Gefahr zu sehen. Das heisst aber umgekehrt nicht, dass nun eine Mehrheit der Ukrainer plötzlich in Russland keine Bedrohung mehr sähe, nur weil sie nicht Poroschenkos «Ich oder Putin»-Rhetorik gefolgt sind.
Kontraproduktive «schwarze PR»
Vielmehr entstand in den vergangenen Wochen der Eindruck, Poroschenkos verbissenes Festhalten an Patriotismus-Appellen und an einer militaristischen Rhetorik führe über seine unmittelbare Anhängerschaft hinaus zu noch mehr Verdruss. Auch die aggressive «schwarze PR» seitens Poroschenkos Kampagne gegen Selenski – dessen Diffamierung als Drogenabhängiger, als Militärdienstverweigerer, überhaupt als unzulänglicher Patriot – mobilisierte vermutlich noch mehr Wähler für Selenski.
Dabei hätte Poroschenko einiges vorzuweisen gehabt, das geben selbst jene zu, die ihn nicht wählen wollten. Er reformierte das Gesundheitswesen und ermöglichte erstmals dank der Dezentralisierung Städten und Regionen mehr Selbständigkeit bei
der Ausgestaltung ihrer Aufgaben. Doch Poroschenko konzentrierte sich auf die Stärkung der Armee, der ukrainischen Identität und die erlangte Eigenständigkeit der orthodoxen Kirche.
Zweifel an Fähigkeiten und Möglichkeiten
Auch wenn es Poroschenko und seine Anhänger bis zuletzt bedrohlich an die Wand gemalt haben: Die ukrainische Staatlichkeit ist durch den Sieg Selenskis nicht gefährdet. Das Mantra ist auch Ausdruck von Schwäche. Denn wäre es so, dass allein Poroschenko und seine Entourage in der Lage wären, die Souveränität des Landes zu bewahren, müsste nur das schon als eklatantes Versagen des geschlagenen Präsidenten gelten.
Die Institutionen der Ukraine sind schwach, der äussere Druck durch Russlands militärische Bedrohung und Intervention im Donbass ist riesig, und die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen sind enorm. Das alles macht die Präsidentschaft eines Politneulings mit schwammigen Vorstellungen und einem Hang zu mangelndem Ernst für die Ukraine zur grösseren Bürde als die Wahl Donald Trumps für die USA. Ein Verdienst Poroschenkos ist es aber gerade, in den vergangenen fünf Jahren trotz allen Missständen das Land zurück auf einen einigermassen sicheren Weg geführt zu haben.
Selenski hat nichts in Aussicht gestellt, was daran zweifeln liesse, dass er diesen Weg nicht fortzusetzen gedenkt. Eher sind Zweifel an seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten angebracht, dies zu tun. Ihm fehlt jede Hausmacht im für die Tagespolitik entscheidenden Parlament, der Werchowna Rada, und er kommt ohne politisches Netzwerk und selbst ohne ein wirklich starkes Team an die Macht. Der Kiewer Politologe Wolodimir Fesenko sieht einen möglichen Ausweg deshalb in unkonventionellen Entscheidungen und einer unkonventionellen Amtsführung des künftigen Präsidenten.
Nicht so schnell eine «neue Ukraine»
Die Ukraine wird allerdings mit einem Präsidenten Selenski nicht einfach und schnell ein anderes, aus Sicht der Wähler besseres Land werden. Dafür ist der 41-Jährige zu sehr eine Projektionsfläche höchst unterschiedlicher Hoffnungen geblieben. Auch gab er bedenklich wenig von seinen politischen Vorstellungen preis. Sein Wahlkampf fand mehrheitlich auf Instagram, Youtube und anderen sozialen Netzwerken statt, überdies in seinen Comedy-Auftritten. Um politische Konzepte ging es auch in der Debatte am Freitagabend nicht.
Es ist auch nicht völlig unerheblich, dass über seine tatsächlichen Verbindungen zu seinem mutmasslichen Gönner Ihor Kolomoiski, einem so schillernden wie robusten Magnaten, und anderen Hintermännern seiner Kampagne so wenig bekannt ist. Selenski sagte zwar am Freitagabend während der Debatte im Kiewer Olympiastadion in Abgrenzung zum reichen Geschäftsmann Poroschenko, er sei nur ein einfacher Mann aus dem Volk. Damit knüpft er an seinen Helden seiner Fernsehserie «Diener des Volkes» Wasil Holoborodko an, den Geschichtslehrer, der völlig unerwartet zum Präsidenten der Ukraine wird. Selenski ist jedoch im Unterschied zu Holoborodko eben kein Lehrer, der mit den Eltern in einer bescheidenen Wohnung wohnt. Er ist selbst sehr wohlhabend, ein erfolgreicher Unternehmer mit Immobilienbesitz im Ausland.
Vorgezogene Parlamentswahlen?
Entscheidend wird sein, wie schnell es Selenski gelingt, erste Hoffnungen zu erfüllen und Enttäuschungen zu vermeiden. Dafür muss er zügig ein glaubwürdiges Team zusammenstellen, und er muss all die Zweifel über seine Nähe zu Kolomoiski und anderen Oligarchen ausräumen, indem er offensichtliches Entgegenkommen diesen gegenüber verhindert. Die im Herbst erst stattfindenden Parlamentswahlen sind Fluch und Segen zugleich: Die mangelnde Hausmacht im Parlament ermöglicht es ihm, auf die Blockade durch die Gegner zu verweisen. Sie könnte aber auch seinem Elan schnell ein Ende setzen. Deshalb scheint er mit vorgezogenen Wahlen im Sommer zu liebäugeln – allerdings ein riskantes Unterfangen.
Poroschenko führte einen „letzten „Kampf
Vor der Stichwahl um die ukrainische Präsidentschaft verbindet sich die Wut über den amtierenden Staatschef Poroschenko mit der Hoffnung auf den unbefleckten Komiker Selenski. Aber auch dieser stösst auf viel Skepsis in der zentralukrainischen Provinz. Markus Ackeret, Schitomir 20.4.2019, 05:30
Freie Wahlen, aber von einer Demokratie noch weit entfernt – die Ukraine ist nicht zu beneiden
Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine dürften wohl mit einer Abwahl Petro Poroschenkos enden. Er konnte den hohen Erwartungen nicht gerecht werden. Mit dem Komiker Selenski steht ein Mann bereit, der mit seiner Verweigerung einer Debatte schon mal demonstrativ die Gesetze missachtet