Ob Einmarsch grüner Männchen in der Krim, Abschuss von MH17 durch ukrainische Kampfjets oder Hobbyhacker bei den US-Wahlen – die russische Regierung kommt mit blankem Lügen erstaunlich gut durch. Mit dem offenen Dilettantismus der Geheimdienste in den vergangenen Wochen dürfte aber eine Grenze erreicht sein.
Nikolai Klimeniouk 9.10.2018, 05:30 Uhr
«Einige glauben, Herr Skripal sei so etwas wie ein Menschenrechtsaktivist. Er ist aber nur ein Dreckskerl, sonst nichts.» Ein offenes Wort von Putin. (Bild: AP)
«Da ist nichts Besonderes und auch nichts Kriminelles dabei», sagte der russische Präsident Wladimir Putin vor gut einem Monat über die zwei Männer, deren Fotos und Namen britische Behörden im Zusammenhang mit dem Nervengiftanschlag in Salisbury veröffentlicht hatten. Die Männer, die unter den Namen Petrow und Boschirow nach Grossbritannien eingereist waren, seien die Hauptverdächtigen und Mitarbeiter der russischen militärischen Aufklärung GRU, sagte Premierministerin Theresa May. Sie seien harmlose Zivilisten, entgegnete Putin.
Er hat gelogen. Inzwischen erreicht das staatliche Lügen in Russland eine neue, bisher kaum bekannte Qualität. Jetzt brauchen die Lügen nicht mehr den leisesten Anhauch von Plausibilität zu besitzen, sie müssen offenbar gar niemanden überzeugen. Sie sind endgültig zu einer rituellen Handlung geworden, man lügt um des Lügens willen, weil es gar nicht anders geht.
Kulturtourismus eben
Als der russische Auslandsender RT wenige Tage nach Putins Behauptung ein Interview mit den angeblichen Zivilisten ausstrahlte, fiel es selbst den hartgesottensten Putinisten schwer, ihnen ihre Geschichte abzunehmen. Die steifen Männer, die während des Interviews mit der Chefin des Propagandasenders, Margarita Simonjan, wie Polizisten im Einsatz wirkten, behaupteten, sie seien Kleinunternehmer im Fitnessbereich, hätten in England Ferien gemacht und die weltberühmte Kathedrale von Salisbury besuchen wollen, Kulturtourismus eben.
Offene Aggression, zu der sich der russische Staat dann doch bekennt, kommt beim Publikum eindeutig besser an als diese peinlichen Niederlagen.
Abenteuerliche Adjektive, die sie vom Wort Salisbury ableiteten, hörten sich an, als handle es sich um einen Vorort von Moskau. Den Höhepunkt erreichte das Interview, als die beiden suggerierten, sie seien ein schwules Paar. Es war so komisch, dass die sozialen Netzwerke mit Memes, einem Lauffeuer aus Bildern, Videos, Blogs und Texten, reagierten – und nicht etwa mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien.
Bisher war dies die häufigste Reaktion auf die propagandistischen Nebelkerzen des Kremls, wie etwa den Abschuss der malaysischen Maschine mit der Flugnummer MH17 oder die russische Intervention in der Ukraine, gewesen. Selbst überzeugte Putin-Anhänger konnten mit den Geschichten von «Petrow und Boschirow», die von vorne bis hinten nicht stimmten, nichts anfangen. Zu allem Übel wurde kaum einen Monat später noch der angebliche Boschirow von den investigativen Teams von «Bellingcat» aus England und «The Insider» aus Russland als GRU-Oberst Ruslan Tschepiga identifiziert. Er sei, so fanden sie heraus, auch als Held der Russischen Föderation dekoriert worden, mit der höchsten Auszeichnung in Russland, vermutlich für die Organisation der Flucht des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch nach Russland. In der Regel wird dieser Orden vom Präsidenten persönlich überreicht; es ist also mehr als wahrscheinlich, dass der Geheimdienstler Tschepiga für Putin nicht bloss ein Name war.
Arg gesunkene Popularitätswerte
Die Affäre Skripal entwickelt sich zu einer der grössten und peinlichsten Niederlagen in der Geschichte der russischen und sowjetischen Geheimdienste. Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass russische Agenten in geheimen Missionen mit Pässen mit dicht aufeinanderfolgenden Seriennummern unterwegs waren, anhand dieser Seriennummern können wohl ganze Netzwerke ausgehoben werden. In den Niederlanden wurden vier Offiziere des GRU enttarnt, die mit solchen Papieren einreisten, um in die Netzwerke der Organisation für das Verbot chemischer Waffen einzubrechen, jener Organisation, die sich gerade mit dem Nervengiftanschlag von Salisbury befasst. Laut niederländischen Ermittlern waren dieselben Männer unterwegs, um sich in die Netzwerke der internationalen Antidopingbehörde (Wada) zu hacken oder in die Computer des Teams, das den Abschuss von MH17 untersucht. In Russland kommen diese Enthüllungen gar nicht gut an, selbst linientreue Komiker machen darüber Witze im staatlich kontrollierten Fernsehen.
Die russische Machtmaschinerie ist inzwischen an jenem Punkt angekommen, an dem ihre Strategie der Unverschämtheit nach hinten losgeht. Die Geheimdienste kümmern sich um die Glaubwürdigkeit der Tarnung ihrer Agenten genauso wenig wie die Propagandamaschine um die Glaubwürdigkeit ihrer Lügen. Wenn man die russische Öffentlichkeit im Nu um den Finger wickeln kann, wird es bei den ausländischen Geheimdiensten nicht schwieriger sein, denkt man wahrscheinlich. Und wenn die Propaganda behauptet, dass in ausländischen Behörden lauter unfähige Idioten sitzen, glaubt daran wohl vor allem der russische Geheimdienst.
Offene Aggression, zu der sich der russische Staat früher oder später dann doch bekennt, kommt beim Publikum eindeutig besser an als diese peinlichen Niederlagen. Die geplante Pensionsreform schlägt zusätzlich aufs Volksgemüt. Laut der jüngsten Umfrage des privaten Meinungsforschungsinstituts Lewada sind Putins Zustimmungswerte auf das Niveau von 2013 gefallen, also auf den Stand vor der in der Bevölkerung sehr populären Invasion der Krim und der Ostukraine. Trotz nahezu totaler Kontrolle des Staates über die Medien unterstützen heute lediglich 58 Prozent der Befragten Putin – das ist für russische Verhältnisse ein sehr niedriger Wert.
Nikolai Klimeniouk, geboren 1970 in Sewastopol auf der Krim, lebt als freier Autor in Berlin.