Flucht in die Freiheit

Betreff: Ein Hockey-Prager – Flucht in die Freiheit – Dank einer Lüge schaffte es ein junger Prager an Weihnachten vor 54 Jahren, sich mit dem Roller in die Schweiz abzusetzen (ex NZZ vom 24.12.18)

Flucht in die Freiheit

Dank einer Lüge schaffte es ein junger Prager an Weihnachten vor 54 Jahren, sich mit dem Roller in die Schweiz abzusetzen

Der Eishockeyspieler gewann an der Universiade in Villars Gold und lernte seine Schweizer Ehefrau kennen (Bild von 1959).Privatarchiv

Der Morgen war bitterkalt. Auf meinem Motorroller fuhr ich Richtung Westen. Damals besass ich keine warmen Kleider. Meine Jacke hatte ich mit Schaumstoff aus einer Autokarosserie gefüttert. Links und rechts der Strasse lagen die endlosen, dunklen, böhmischen Wälder. Immer weiter gegen Westen. Ich passierte eine Tafel: «Achtung, Grenzgebiet. Zutritt nur mit spezieller Bewilligung.»

Auf der Brücke über der Grenzlinie stand ein Soldat mit einer Maschinenpistole. Bei der Barriere ein Grenz­wächter mit einem Hund. Ich bremste ab. Eine Freundin hatte mir eine Sturmhaube gestrickt. Ich trug sie unter dem Helm, nur meine Augen schauten hervor. Sofort zog ich den Helm und die Haube ab, damit die Soldaten mein Gesicht ­sehen konnten. «Wo fahren Sie hin?», fragte der Soldat mit dem Hund. «In die Schweiz», antwortete ich. Der Soldat blickte misstrauisch und verschwand mit meinen Dokumenten in der Grenzwache.

In diesem Moment wurde über mein Leben entschieden.

Erlaubte Ferien in Italien

Es war nicht das erste Mal, dass ich die Tschechoslowakei verlassen wollte. Im Sommer hatte ich mit meinem Freund Pepik Ferien in Italien gemacht. Pepik war von einer kommunistischen Jugendgruppe aus Verona eingeladen worden. Er sagte: «Du hast ein Motorrad, ich habe eine Einladung. Fahren wir nach Italien.» «Du spinnst», antwortete ich, «das kommt doch gar nicht infrage.» Doch aus unerfindlichen Gründen gaben uns die Behörden die Erlaubnis. Also fuhren wir zusammen auf meinem Roller über 800 Kilometer von Prag bis Verona.

Auch die Schweiz kannte ich schon. Zwei Jahre zuvor hatte ich an der Universiade in Villars nicht nur die Goldmedaille im Eishockey gewonnen, ­sondern auch meine zukünftige Ehefrau aus der Schweiz kennengelernt. Im Mannschaftshotel gab es drei Schlafplätze zu wenig. Ich gehörte zu den jüngsten Spielern und musste deshalb in ein Nebengebäude umziehen. Die Frau, die uns damals unseren Schlafplatz zeigte, heiratete ich einige Jahre später.

Mit einer Einladung der Schweizerin im Gepäck machte ich mich am 19. Dezember 1964 auf die Reise. Wenn mich die Grenzwächter nicht aufhielten, würde ich meine Heimat für immer ­verlassen.

Ich fuhr eine Cezeta 175 mit knatterndem Zweitaktmotor. Der Tank über dem Vorderrad liess den Motorroller aussehen wie eine Ente. Auf dem Schnabel hatte ich ein Köfferchen befestigt. Mit den Beinen umklammerte ich einen Beutel, auf dem Rücken trug ich einen riesigen Rucksack. Hinten am Motorrad hing ein einrädriger Anhänger, der aussah wie ein Ei. Was nimmt man mit, wenn man weiss, dass man nie mehr zurückkehrt? Ich hatte viel zu viel Gepäck dabei. Doch ich war für die Grenzkontrolle gewappnet.

Der Soldat trat zusammen mit einem Offizier aus der Grenzwache hervor. «Sie wollen also in die Schweiz?», fragte der Offizier argwöhnisch. Bevor er eine weitere Frage stellen konnte, begann ich, eine Rede abzuspulen, die ich für diesen Fall vorbereitet hatte: «Genosse», fing ich an, «dieses Motorrad ist ein ausgezeichnetes Erzeugnis der tschechischen Arbeiterschaft. In der Schweiz habe ich eine Wette abgeschlossen. Sollte ich mit diesem Motorrad auf dem Weg eine Panne haben, dann werde ich abgeholt und muss an Weihnachten im Zürichsee baden gehen.»

Der Offizier machte grosse Augen: «Das ist ja toll, da drücken wir Ihnen die Daumen!», sagte er beinahe euphorisch, um sogleich anzufügen: «Was haben Sie denn alles dabei?»

In den Wochen zuvor hatte ich mir für jedes einzelne Stück im Gepäck eine Begründung ausgedacht, wieso ich es in die vermeintlichen Weihnachtsferien in der Schweiz mitnehmen müsse. Die vielen Kleider? Würde ich an den vielen Weihnachtsfeiern tragen. Die Schlittschuhe? Brauchte ich, um den Schweizern mein Können auf dem Eis zu präsentieren. Die Schulbücher? Musste ich für eine anstehende Prüfung dabei haben.

Zuoberst in meinen Gepäckstücken lagen die Kleider. Unten diejenigen Dinge, die kein Mensch in den Weihnachtsferien braucht. Ich öffnete den Deckel des Anhängers, der Offizier spähte hinein. Ich hob ein Stoffstück an, und darunter kam eine geschliffene tschechische Glasplatte zum Vorschein. «Auch das ein weltberühmtes Erzeugnis der tschechischen Arbeiterschaft», sagte ich. «Man kann an Weihnachten schliesslich nicht mit leeren Händen in die Schweiz fahren.» – «Da haben Sie recht», antwortete der Offizier. «Dann wünschen wir Ihnen eine gute Reise.»

Der Roller sprang an, ich liess die Grenze hinter mir. Nie wieder würde ich in die Tschechoslowakei zurückkehren.

Ich war schon immer ein freiheits­liebender Mensch. An meinem Leben hat mich das am meisten gestört: dass ich nicht selber entscheiden konnte, was ich machen, wohin ich gehen wollte. Wir ­lebten hinter einem Vorhang der Lüge. Die Menschen führten Scheinleben, weil sie nie wussten, wem sie vertrauen konnten. Im engsten Freundeskreis wurde über die Politik diskutiert, geschimpft, und man machte Witze über sie. Doch an der Arbeit oder im Kontakt mit den Parteileuten musste man sich immer korrekt verhalten.

Ich wusste bereits als Student: So will ich nicht sterben. Aus den Ferien mit ­Pepik in Verona wäre ich am liebsten gar nicht mehr zurückgekehrt. Aber er war ein erfolgreicher junger Chemiker und hatte Perspektiven in Prag. Wäre er allein zurück, hätte er ernsthafte Probleme bekommen. Nach meiner Heimkehr fasste ich jedoch den Entschluss zu fliehen.

Die Ahnung der Mutter

Es folgten Wochen des Schweigens. Nicht einmal meiner Mutter durfte ich etwas von meinen Plänen erzählen. Als ich sie das letzte Mal vor meiner Abreise besuchen ging, verabschiedete ich mich wie immer und fuhr mit meinem Motorrad davon. Doch ich wusste nicht, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Nach einigen Metern drehte ich mich noch einmal um und winkte ihr ein letztes Mal zu.

Jahre später hat sie mir verraten, dass sie meine Flucht damals geahnt habe. Den Moment, als ich ihr auf dem Motorrad zuwinkte, habe sie nie wieder vergessen. Denn da habe sie gewusst: Der kommt nicht mehr zurück.

Damals arbeitete ich hauptberuflich als Turnlehrer an einer Berufsschule in Mlada Bolesla und spielte Eishockey in der 2. Liga. Anfang Dezember rief mich der Schuldirektor in sein Büro. «Genosse», sagte er, «Sie sind als Eishockeyspieler ein Vorbild. Dutzende Lehrlinge gehen zu Ihnen in die Schule. Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht in die Kommunistische Partei eintreten möchten.»

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich war angewiesen auf die Erlaubnis meines Arbeitgebers, um ins Ausland zu fahren. Der Direktor hätte meinen geheimen Plan im Nu zerstören können. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. «Genosse, das ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit», antwortete ich. «Darüber muss ich zuerst mit voller Verantwortung nachdenken.»

Nach diesem Gespräch bin ich nie mehr an die Schule zurückgekehrt. Ich bekam Angst. Eine falsche Bemerkung hätte gereicht, um meine ganze Zukunft zu gefährden. Ich brauchte einen ­Ausweg.

Wenige Tage später hatte ich mit meiner Eishockeymannschaft ein Meisterschaftsspiel in Prag. Ich würde mich in diesem Spiel verletzen. So müsste ich nicht mehr an meinen Arbeitsplatz zurückkehren. Während des Spiels liess ich mich bei einem Zweikampf kurz vor der Bande fallen. Damals trugen Eishockeyspieler noch keine Helme. Ich schlitterte über die Eisfläche und prallte kopfvoran in die Bande. Ich liess mich vom Eis tragen. Ernsthaft verletzt hatte ich mich nicht, doch mein Plan ging auf. Ein Arzt diagnostizierte mir noch neben dem Eisfeld eine Hirnerschütterung. Ich musste nicht mehr arbeiten gehen.

Wenige Wochen später war ich in der Schweiz. Ich war frei – und fiel in ein tiefes Loch. Es gab keine Obrigkeit mehr, die über mein Leben bestimmen konnte. Ich musste erstmals selber entscheiden, was ich mit meiner Zukunft anstellen wollte. Ich war überfordert von meiner neu gewonnenen Freiheit.

Nach meiner Ankunft lebte ich bei der Familie meiner zukünftigen Ehefrau. Doch ich brauchte einen Job. Ich rief beim Eishockeyklub in Villars an, wo ich seit der Universiade einige Leute kannte. Der Eismeister nahm das Telefon ab und sagte, ohne zu zögern: «Klar, komm her, wir finden etwas für dich.» Das war der Anfang meines zweiten Berufslebens.

In Villars stellte ich einen Asylantrag und begann, als Eismeister zu arbeiten. Eishockey spielen durfte ich nicht, weil damals noch keine Ausländer in der Meisterschaft zugelassen waren. Bald kannte mich aber das ganze Dorf, weil jeder wusste, dass ich technisch locker mit den Spielern der ersten Mannschaft mithalten konnte. Danach arbeitete ich drei Jahre lang als Trainer beim HC Davos. Schliesslich zog ich nach Zürich und war fortan Sportlehrer beim Akademischen Sportverband.

Der Geruch der Heimat

Nach sechs Jahren in der Schweiz sah ich zum ersten Mal meine Mutter wieder. Sie durfte mich besuchen kommen. Alte Frauen konnten leichter ausreisen. Die Kommunisten hofften wohl, dass sie nicht zurückkämen und das Regime so Rentengelder sparen könnte.

1990 kehrte ich erstmals nach 26 Jahren wieder in die Tschechoslowakei zurück. Als ich mit dem Bus über die Grenze fuhr, wurde es dunkel. In der Schweiz und in Deutschland waren die Strassen beleuchtet, nicht aber in der Tsche­choslowakei. Nicht die Finsternis irritierte mich, sondern der Geruch. Es war Winter, die Fenster des Busses waren geschlossen – trotzdem roch ich sofort die typischen Kohleheizungen. Ich war zurück.

Seither fahre ich regelmässig nach Prag. Die Reise ist auch nicht mehr so beschwerlich wie vor 54 Jahren auf meiner Cezeta. Doch noch heute geht es mir unter die Haut, wenn ich Bilder aus der Zeit der Angst und Willkür sehe. Jüngere Generationen haben keine Vorstellung davon, wie das Leben in einem solchen Regime funktioniert. Die jüngsten Menschen, die sich daran erinnern können, sind heute um die 40 Jahre alt. Es dauert nicht mehr lange, dann wird die historische Erinnerung einschlafen.

Ich bin zwar schon 81, aber noch immer viel unterwegs. Einmal in der Woche spiele ich mit Studenten Eishockey. Letztes Jahr besuchte ich meinen alten Freund Pepik in den USA. Er ist mittlerweile ein renommierter Chemieprofessor. Im Frühling unternahm ich eine Wanderung auf eine Alp. Der Schnee lag noch so hoch, dass ich die Hütte freischaufeln musste. Ich verbrachte zwei Tage mutterseelenallein in der Stille der Berge. Nach der Wanderung zurück ins Tal hatte ich aber tagelang Knieschmerzen. Da habe ich mich gefühlt wie ein alter Mann.

Aufgezeichnet: Nils Pfändler

Der 81-jährige Mann bat darum, seinen Namen nicht zu nennen.

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