Wirtschaftslage Ukraine, 15. November 2014
Dr. Stanislava Brunner, Vorstandsmitglied Forum Ost-West, Zürich, 15.11.14
Grundsätzliche Aussagen des Wirtschafsberichts vom April 2014 bleiben unverändert: Die Ukraine schafft es nicht aus eigener Kraft, die Wirtschaftskrise zu überwinden und den Aufbau einzuleiten. Auch nicht mit der bisher gesprochenen Finanzhilfe des Internationalen Währungsfonds (17 Mrd. $ bis Anfang 2016), der EU sowie anderen Ländern und Institutionen von insgesamt 33 Mrd. Das Thema Marshallplan ist nicht vom Tisch, im Gegenteil: mit weiteren Krediten steigt die Last der Schuldentilgung. Ohne finanzielle Zuwendungen (grants) vor allem seitens der EU wird es nicht gehen.
Doch kann man kaum von einem Wiederaufbau reden, solange sich der östliche Teil der Ukraine weiterhin im Krieg befindet und die Zukunfts-Szenarien auf einen über Jahrzehnte „eingefrorenen Konflikt“ hinauslaufen.
Aktuelle Lage: Die Verkehrs- und Strominfrastruktur des Donbass ist zerstört, Kohlebergwerke sind überflutet, und die Ukraine muss (aus Russland) Kohle importieren. Der Konflikt zehrt an der Substanz des Landes: Neuerdings ist das Verteidigungsbudget wieder aufgestockt worden – trotz des steigenden Budgetdefizits auf ca. 7% des BIP. Die Staatsverschuldung, im Vorjahr noch bei 40% des BIP eher moderat, bewegt sich der 70% Grenze zu. Die Wirtschaftsleistung wird 2014 ca. um 8-10% gegenüber dem Vorjahr schrumpfen, am besten hält sich noch der Agrarsektor.
Die Arbeitslosenquote stieg im Oktober über 8% und die Inflation dürfte sich in den nächsten Monaten auf 20% im Jahresvergleich belaufen, vor allem wegen der durch die Abwertung stark verteuerten Importe, sowie der Gas-und Strompreiserhöhungen. Die Währung Hrywna hat seit Jahresbeginn gegenüber dem Dollar um 60% an Wert verloren, und die Kapitalflucht hält an. Immerhin konnte das Ertragsbilanzdefizit auf 2.8% des BIP reduziert werden, dank den schneller sinkenden Importen als Exporten. Doch die Bedienung der Auslandschulden, welche 68% des BIP betragen und 2015 laut IMF weiter auf 102% des BIP steigen sollen, belastet die Kapitalbilanz. Die Währungsreserven sind im Oktober auf 12.6 Mrd. $ gesunken.
Mindestens konnte eine Zwischenlösung im Gasstreit mit Russland gefunden werden: bis März 2015 wird an die Ukraine Gas zum Preis von 385 $ für 1000 Kubikmeter – gegen Vorauszahlung- geliefert. Doch dies ist eine Notlösung, die langfristigen Herausforderungen bleiben.
Der aufgeblähte Staatsapparat und der nicht funktionierende Rechtsstaat wirken abschreckend für Privatinvestoren. Ein radikaler Abbau der staatlichen Subventionen hauptsächlich im Energiesektor und ein radikaler Bürokratieabbau sind nötig, um der Korruption beizukommen und die Energieeffizienz zu steigern. Ein sparsamerer Energieverbrauch vergleichbar mit den Standards in der EU würde die Ukraine zur fast vollständigen Reduktion der Energieabhängigkeit von Russland verhelfen.
Eine weitreichende Deregulierung genauso wie eine Entschlackung des Steuersystems und der Aufbruch der Monopolstrukturen müssten folgen: Die starke Konzentration der Wirtschaft in den Händen einer kleinen Gruppe von Oligarchen, welche auch in der Politik mitmischen, bremst die Neigung zu Reformen.
Potential und Ausblick
Zusammengefasst lassen sich die Probleme der Ukraine nicht auf den Konflikt in der Ostukraine reduzieren. Obwohl in Donbass im Vorjahr noch 16% der ukrainischen Wirtschaftsleistung, 23% der Industrieproduktion und 25% der Exporterlöse generiert wurden, sind die Produktion- und Energieanlagen weitgehend veraltet und „Energiefresser“. Investitionen in die Energieeffizienz wurden lange vernachlässigt. Das Potential des ganzen Landes blieb nach der Unabhängigkeit schlecht genutzt: die Energieressourcen (Kohle und Erdgas), die Vorkommen von Basis- und Buntmetallen, die fruchtbaren Schwarzerde Böden. Der grosse Binnenmarkt mit 45 Mio. Einwohnern ist von Vorteil, er mindert die Exportabhängigkeit.
Nebst der Beilegung des Ostukraine-Konflikts ist wesentlich, das Vertrauen der Investoren und den Zugang zur externen Finanzierung wieder zu gewinnen.
Es ist offen, ob es Ukraine gelingt, die umfangreichen vor allem strukturellen Reformen radikal anzugehen. Der Zeitpunkt nach den Wahlen vom Oktober wäre richtig, die Reformparteien haben klar das Mandat bekommen. Ein gutes Beispiel hätte das Land in seinem Nachbarn Polen, das von der Bevölkerungszahl und dem Ausgangszustand nach der Wende vergleichbar ist: mit radikalen Reformen konnte ein grundlegender Wandel eingeleitet werden, und heute liegt der Lebensstandard am BIP pro Kopf gemessen in Polen viermal höher als in der Ukraine.
Doch die Befürchtung bleibt, dass mit den erneuten Kämpfen im Osten der Ukraine Russland bemüht ist, einen schnellen Reformprozess zu torpedieren – durch die nötige Fokussierung und das Abzweigen von Ressourcen weg vom friedlichen Umbau des Landes.