Wohin treibt die Ukraine?
Ursachen und Folgen des russisch-ukrainischen Krieges
Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Simon
an der Jubiläumsveranstaltung 20 Jahre Forum Ost-West in Bern, den 26. November 2014
13 Thesen
Von Majdan zu Majdan
- Im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit der Ukraine waren die ukrainisch-russischen Beziehungen zwar gespannt, dennoch entwickelte sich in beiden Staaten ein weitgehend ähnliches politisches System: Die Präsidenten konzentrierten möglichst viel Macht und minimierten den Einfluss des Parlaments. Eine unabhängige Justiz blieb allenfalls ein Lippenbekenntnis. Eine der Folgen war die ausufernde Korruption.
- Seit der Jahrhundertwende entwickelten sich die politischen Systeme auseinander: In Russland festigte sich ein autoritäres Präsidialsystem, in der Ukraine führte der Versuch von Präsident Kutschma, in die gleiche Richtung zu gehen, zur Orangen Revolution 2004/05.
- Die Orange Revolution war das Aufbegehren der Zivilgesellschaft gegen ein korruptes Präsidialregime, das Wahlen fälschte, um einen Machtwechsel zu verhindern. Zwar erreichte die Orange Revolution ihr Ziel. Die Wahlen wurden wiederholt; aber die Sieger waren unfähig, den Erfolg zu nutzen und das Land auf einen neuen Weg zu führen.
- Warum gelang es nicht, in der Ukraine eine autoritäre Präsidialherrschaft zu etablieren? Mehrere Ursachen wirkten zusammen: die oft beklagte „Gespaltenheit“ der Ukraine wirkt als Bremse gegen die Errichtung einer Diktatur; die semi-autoritären Strukturen in den 1990er Jahren beließen der Opposition gewisse Freiräume; in Geschichte und Gegenwart lag und liegt die Ukraine näher zu Mitteleuropa, der Freiheitswille ist stärker entwickelt als beim „nördlichen Nachbarn“.
- Der Anlass für den Euro-Majdan seit November 2013 war zwar der Protest gegen die Verweigerung der Assoziierung mit der EU, aber sehr bald forderten die Demonstranten den regime change, eine andere, bessere Ukraine, Kampf gegen das korrupte System des Präsidenten, die „Revolution der Würde“. Die Vision von Europa war die Vision von Freiheit, Rechtsstaat und Wohlstand.
Krieg im Donbas. Wer kämpft gegen wen?
- Sturz und Flucht von Janukowytsch im Februar 2014 lösten massive Gegenschläge aus: die Annexion der Krim im März und den Krieg im Donbas seit April.
- Unter Ausnutzung anti-ukrainischer Ressentiments bei einer Minderheit der Bevölkerung im Donbas (Gebiete Donezk und Luhansk) wurde ein „Volkssturm“ bewaffnet, der gewaltsam die Macht in Teilen des Donbas übernahm. Dabei wurde die Militarisierung von Anfang an aus Russland gesteuert: durch russische „Spezialeinheiten“, „Freiwillige“, Kommandeure und Waffen. Unter den Kämpfern des „Volkssturms“ spielten Kriminelle eine erhebliche Rolle.
- Die ukrainische Armee war anfangs in einem desolaten Zustand. Sie wurde seit April durch den Aufbau einer Nationalgarde verstärkt. Eine große Rolle spielten zahlreiche Freiwilligenbataillone, die teilweise aus dem Donbas stammen. Im August waren die ukrainischen Streitkräfte drauf und dran, die „Separatisten“ aus dem Donbas zu vertreiben. Russland verhinderte das durch den Einsatz regulärer Einheiten ohne Hoheitsabzeichen, die den ukrainischen Streitkräften massive Verluste zufügten und den „Waffenstillstand“ vom 5. September erzwangen.
- Der Krieg im Donbas wird von russischer Seite als eine gigantische Geheimdienstoperation geführt. Leugnung und Lüge sind deshalb aus russischer Sicht nicht nur gerechtfertigt, sie sind ein Teil der Operation.
„Die Putin-Doktrin“
- : Die „Putin-Doktrin“ von der beschränkten Souveränität der Ukraine und der anderen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion besagt, dass diese Staaten zum imperialen Einflussgebiet Russlands gehören, das de facto ein Veto-Recht in der inneren und äußeren Politik dieser Staaten beansprucht.
- Begründet wird dies Recht damit, dass Ukrainer und Russen „ein Volk“ seien und dass die Russländische Föderation historisch und geopolitisch das Recht und die Pflicht habe, das „historische Russland“ wiederherzustellen. Diese Doktrin gleicht der nationalsozialistischen in den 1930er Jahren. Der Krieg im Donbas ist kein einmaliger Sonderfall. Er fügt sich vielmehr ein in das Vorgehen gegen die Moldau und Georgien. Weitere Szenarien in der Zukunft sind denkbar.
Ziele der ukrainischen Politik
- In der Ukraine wiederholt sich gegenwärtig das, was vor 25 Jahren in Warschau, Leipzig oder Prag geschah: Die Ukraine löst sich aus der Hegemonie des imperialen Russland. Der Unterschied besteht darin, dass Gorbatschow die Länder Ostmitteleuropas aus der sowjetischen Hegemonie entließ, der erstarkte Putin aber der Ukraine die Trennung von Russland verweigert.
- Der Euro-Majdan und der Krieg mit Russland haben das nationale Selbstbewusstsein der Ukrainer gestärkt. Das Land ist heute politisch und militärisch fester gefügt und widerstandsfähiger als vor einem Jahr, jedoch auf die westliche Unterstützung angewiesen und wünscht mehr Zusammenarbeit mit dem „Westen“. Die EU sowie die Schweiz sind an einer demokratischen und prosperierenden Ukraine auch interessiert.