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7 kritische Fragen an den Kremlchef

von Christian Weisflog,  NZZ am 18.11.2014

Putin verwehrte den Tschetschenen das Recht auf Selbstbestimmung, während er es heute in der Ukraine einfordert.

Die ARD strahlte am Sonntag ein Interview mit Wladimir Putin aus, das kaum kritische Fragen enthielt. Kein Wunder: Der Journalist, der es führte, ist dem Kremlchef wohl gesonnen. Auf diese sieben wunden Punkte hätte er seinen Finger legen müssen:In seiner Talk-Sendung hatte Günther Jauch zwar versucht, das unkritische Interview mit guten Gästen wieder aufzufangen. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die WDR-Chefredaktorin und ehemalige Moskaukorrespondentin Sonia Seymour Mikich sowie der Historiker Heinrich August Winkler relativierten Putins gröbste Verzerrungen gekonnt. Dennoch durfte der Kremlchef zuvor in einem halbstündigen Interview seine Sicht der Dinge darlegen, ohne schmerzhafte Fragen befürchten zu müssen.

Denn geführt hatte das Gespräch Hubert Seipel, der ohne ein einziges Mal nachzuhaken von einem grossen Thema zum anderen sprang. Der Journalist durfte Putin 2011 während Monaten begleiten, um den Dokumentarfilm «Ich Putin» zu drehen. Im Zuge der Ukraine-Krise hat er öffentlich für mehr Verständnis für den Kremlchef geworben . Es erstaunt deshalb nicht, dass Seipel das nun publizierte Interview mit Putin zahnlos führte und wichtige Punkte gar nicht erst ansprach. Diese Fragen hätte er aber unbedingt stellen müssen:

Warum durfte Tschetschenien nicht unabhängig werden?

Putin rechtfertigt die Annexion der Krim mit dem in der Uno-Charta verbrieften Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Als Putin aber 1999 russischer Ministerpräsident wurde, startete er den zweiten Tschetschenien-Krieg. Die russische Armee zerstörte die tschetschenische Hauptstadt Grosny vollständig. Wie der erste, fordert auch der zweite Tschetschenienkrieg schätzungsweise 80’000 Todesopfer . Der vom tschetschenischen Volk 1997 unter OSZE-Aufsicht gewählte Präsident Aslan Maschadow wurde von Spezialeinheiten des russischen Geheimdienstes 2005 ermordet. Warum also soll für Tschetschenien etwas anderes gelten als für die Krim oder die Ostukraine?

Würden Sie mit solchen Separatisten sprechen?

Mit der tschetschenischen Führung, die vom Volk gewählt worden war, hatte Putin stets jede Gespräche abgelehnt. Mit «Terroristen» verhandelt man nicht, lautete sein Argument. Nun aber fordert Putin seit Monaten, dass Kiew mit den Separatisten in der Ostukraine verhandelt. Und dies, obwohl die Separatisten über keinerlei demokratische Legitimität verfügen. Die regionalen Parlamente in der Ostukraine haben es stets abgelehnt, den Separatisten ihren Segen zu erteilen. Würden Sie, Herr Putin, mit solchen Separatisten sprechen?

Ist Kosovo wirklich die Krim? Putins Äusserungen über Kosovo als Präzedenzfall für die Krim bedarf unbedingt einer Nachfrage. Im Unterschied zu Kosovo hat es auf der Krim und auch in der Ostukraine keinen langen und blutigen ethnischen Konflikt gegeben. Putin selbst hatte in einem ARD-Interview 2008 nach dem Krieg in Georgien erklärt: «Die Krim ist kein umstrittenes Territorium, dort hat es keinen ethnischen Konflikt gegeben.» Diesen offenkundigen Widerspruch mit der heutigen Argumentation hätte Putin erklären müssen.

Warum hält sich Russland nicht an das Abkommen von Budapest?

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat Russland 1994 gemeinsam mit den USA und Grossbritannien das Budapester Abkommen unterzeichnet. Darin erklärte sich die Ukraine bereit, auf ihr Atomwaffenarsenal zu verzichten. Russland verpflichtete sich im Gegenzug, die territoriale Integrität der Ukraine zu garantieren. Warum hält sich Russland nicht mehr an dieses Abkommen?

Warum drängt Russland nicht auf eine Umsetzung des Minsker Waffenstillstandes? Russland, die Ukraine und die Separatisten hatten im September in Minsk ein Protokoll über einen Waffenstillstand unterschrieben. Darin steht geschrieben, dass in «einigen Bezirken» der Regionen Donezk und Luhansk vorgezogene Lokalwahlen unter ukrainischem Gesetz stattfinden sollten. Die ungenaue Formulierung im Protokoll lässt viel Spielraum für Interpretationen. Aber aus dem Gesamtzusammenhang ist der Kompromiss von Minsk so zu verstehen: Kiew gewährt den Separatisten in den von ihnen kontrollierten Gebieten einen Sonderstatus und weitgehenden Autonomierechten unter der Bedingung, dass dort Lokalwahlen nach ukrainischen Regeln durchgeführt werden. Die Separatisten aber wollen nun nichts mehr von diesen Abmachungen in Minsk wissen. Sie haben am 2. November eigene Wahlen durchgeführt, die von Moskau gutgeheissen wurden. Warum drängt Putin die Separatisten nicht, das Minsker Protokoll umzusetzen? 

Wo sind die ukrainischen Faschisten?

Putin äussert im Interview mit Hubert Seipel, die Befürchtung, dass die Ukraine in den Neonazismus abdriften könnte und dass es in der Ostukraine zu ethnischen Säuberungen kommen könnte. Er behauptet, dass die ukrainischen Freiwilligen-Bataillonen an ihren Uniformen Hakenkreuze tragen würden. Auch an dieser Stelle hakt Seipel nicht nach. Die Behauptung der russischen Propaganda, dass in der Ukraine eine «faschistische Junta» an die Macht gekommen sei, haben sich bisher als haltlos herausgestellt. Sowohl bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr als auch bei dem Parlamentswahlen im Sommer haben rechtsradikale Parteien nur wenige Stimmen gewinnen können. In den Städten, in denen die ukrainische Armee die Separatisten vertreiben konnte, ist es zu keinerlei Säuberungen gekommen. Im Gegenteil: Die Menschen sind froh, dass wieder Friede und Ordnung herrscht.

MH17: Wo sind die Beweise?

Das russische Verteidigungsministerium hatte nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine behauptet, dass sich ein ukrainischer Kampfjet des Typs Su-25 der Boeing bis auf wenige Kilometer genähert hatte. Bis heute hat Moskau den niederländischen Ermittlern aber keine Satellitenbilder oder Radardaten geliefert, die das beweisen würden. Trotzdem hält die russische Propaganda an dieser Version fest: Am vergangenen Freitag behauptete das russische Staatsfernsehen, dass MH17 von einer ukrainischen MiG-29 abgeschossen worden sei. Die dazu gezeigten «Satellitenbilder» erwiesen sich aber schnell als Fälschungen .